Privateigentum als Navigator in Krisenzeiten, Prof. Dr. Paul Kirchhof

Gastbeitrag von Dr. Paul Kirchhof, Bundesverfassungsrichter a.D. und Seniorprofessor distinctus der Universität Heidelberg, zum „Privateigentum als Navigator in Krisenzeiten“.

Eigentum in einer entgrenzten und anonymen Welt

1. Weltmarkt
Unser Wirtschaftssystem ist in Bewegung geraten. Internationale Unternehmen unterwerfen sich keiner nationalen Rechtsordnung, suchen sich von Regeln des Arbeitsrechts, des Verbraucherschutzes, des Steuerrechts und der Sozialsysteme freizuhalten, schaffen damit rechtlich entleerte Räume und verzerren den Wettbewerb. Dennoch entscheiden sie mit ihrer Werbung und ihren Angeboten, was wir essen, wie wir uns kleiden, welche Fahrzeuge wir fahren. Wenige Zentralbanken verteilen Geld, das sie selbst vermehrt haben, um Menschen und Staaten zu lenken. Die Macht des Geldes dominiert und droht die Autorität des Rechts zu verdrängen. Gerade Menschen in Europa scheinen im Recht gesättigt, in der Normenflut sogar übersättigt, im Erwerbsstreben aber unersättlich. Zudem droht der Weltmarkt gegenwärtig in drei große Regionen zu zerfallen, die zwar miteinander kooperieren und verflochten sind, sich aber zunehmend auch voneinander abgrenzen.

2. Digitalisierung
Die Digitalisierung unseres Lebens bringt elementare Erleichterungen, schafft neue Mächtigkeiten des Wissens, des Beobachtens und Kombinierens, der Steuerung und Kontrolle. Erfahrungen mit dem digital möglichen Homeoffice in der Coronakrise werden dazu beitragen, zu Familie und Elternhaus als Ort auch des Erwerbs zurückzukehren, die Trennung von Familienort und Erwerbsort zu überwinden, die Erwerbsarbeit wieder in die Familie und Erziehung einzubeziehen. Der Familiengemeinschaft, der Erwerbsarbeit von Mann und Frau und der Teilhabe der Kinder an praktischer Arbeit eröffnen sich neue Chancen. Doch die Digitalisierung drängt verantwortliches Handeln auch in die Anonymität und damit in die Unverantwortlichkeit. Menschen bezichtigen im Internet Lehrer, Richter oder Konkurrenten wider besseres Wissen einer Untat, ohne dafür einstehen zu müssen. Fondsanleger setzen in Digitalgeschäften ihr Eigentum ein, ohne zu erfahren, ob sie damit Kriege oder Krankenhäuser, Waffen oder Weizen produzieren. Die Idee der Freiheit verkümmert, wenn Selbstbestimmung nicht verantwortet wird.

3. Bewegliches und unbewegliches Eigentum
Bei den gigantischen Summen, die Staat und Europäische Union derzeit ausgeben, wächst die Ratlosigkeit, wie diese finanziert werden sollen. Mit dem Drang zu neuen Steuern droht die Gefahr, dass das Prinzip einer Besteuerung nach individueller Leistungsfähigkeit dem Handlungsmaßstab eines Gerichtsvollziehers weicht, der dort zugreift, wo ersichtlich etwas zu holen ist. Die Begehrlichkeiten richten sich auf das Grundeigentum, das jedermann vor Augen hat, das nicht in die Anonymität des Finanzmarktes fliehen und dessen Wert nicht verschleiert werden kann. Doch Grundeigentum ist auch Staatsgebiet, Existenz- und Erholungsraum für das Staatsvolk, Garant effizienter Umweltschonung, Grundlage vielfältiger beruflicher und privater Freiheitsentfaltung, Kulturlandschaft und Fläche für die Urproduktion von Lebensmitteln. Diese Gemeinwohlfunktion hat eine gesteigerte Sozialpflichtigkeit dieses Eigentums zur Folge. Vergleicht man diese mit der sozialen Ungebundenheit des Finanzkapitals, wird bewusst, dass Grundeigentum nicht durch weitere steuerliche Sozialpflichtigkeit belastet werden darf. Zudem ist das Grundeigentum durch die Grundsteuer und die Grunderwerbsteuer betroffen, das Finanzkapital hingegen weder durch eine Bestandsteuer noch eine Umsatzsteuer.

Privateigentum ist Verantwortungseigentum

1. Pflegen und Mehren des Eigenen
In dieser Dynamik einer neuen Welt der Chancen und Risiken brauchen die Menschen einen Navigator, der die Sicherheit im Bewährten wahrt, Verantwortlichkeit für die Güter dieser Welt begründet, individuelles Erwerbsstreben und damit allgemeine Prosperität stärkt. Wir finden diesen Navigator im modernen Verfassungsrecht, in der Religion und ihrer Gewissenskultur, in der Familie als Lebens-, Erziehungs- und Erwerbsgemeinschaft. Im Wirtschaftsleben bietet das Privateigentum den Leitgedanken für eine Grundsatzorientierung. Der Eigentümer erwirbt, besitzt, nutzt, verwaltet und veräußert sein Wirtschaftsgut in persönlicher Verantwortung für das Eigene. Wir schätzen in Deutschland die Wälder und Felder, die von privater Hand bewirtschaftet werden und damit auch dem Gemeinwohl dienen. Unsere Wirtschaft entfaltet in mittelständischen, persönlich verantworteten Unternehmen Erfindergeist und Marktnähe. In der Person des Unternehmers ruht das Vertrauen auf Firmennamen und Qualitätsprodukt. Das Eigenheim macht sesshaft, entfaltet eine individuelle Wohnkultur, stärkt die Verantwortlichkeit für den örtlichen Frieden, die Nachbarschaftslage und die Umwelt. Der Mensch pflegt den eigenen Garten, vernachlässigt aber den öffentlichen Park. Er nutzt die eigene Bibliothek behutsam, nimmt die öffentliche mit mehr Leichtigkeit in Anspruch. Er hält das eigene Fahrzeug sauber, ist am Zustand eines öffentlichen Busses weniger interessiert.

2. Das Geldeigentum
Viele Menschen gewinnen die ökonomische Grundlage ihrer Freiheit heute im Lohn-und Sozialversicherungsanspruch, im Miet- und Kapitalertrag. Unser gesamtes Wirtschaftssystem beruht darauf, dass Geld durch Erwerbsanstrengung – Einsatz von Arbeitskraft oder Kapital – erworben, nicht staatlich zugeteilt wird. Das selbst verdiente Geldeigentum ist individuell mehr wert als das staatlich zugewiesene Geld, weil es die eigene Leistung anerkennt. Wenn gegenwärtig die Europäische Zentralbank verkündet, Geld „sei da“, müsse nicht erst erworben werden, dieses Geld dann an Staaten, Banken und Unternehmen nach europarechtlich erwünschtem Wohlverhalten verteilt wird, geht eine Funktionsbedingung unseres freiheitlichen Wirtschaftssystems verloren. Das Sprachbild des „Helikoptergeldes“, das über die Landschaften ausgeschüttet wird, um nachfragekräftigere Investoren, Konsumenten, auch Sparer zu schaffen, macht das Problem bewusst. Geld muss individuell verdient werden. Sonst erlahmt die Erwerbsanstrengung des Einzelnen. Der staatlichen Haushaltswirtschaft fehlt der Anreiz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit.

Rückkehr zum individualisierten Eigentum
Die gegenwärtige Krise ist aus den Umbrüchen der Weltwirtschaft und den Folgen des Corona-Virus entstanden. Staaten und Europäische Union suchen einen Ausweg durch das Verteilen gewaltiger Geldmengen. Diese werden den Familien und Unternehmen in aktueller Not helfen, aber keine Verantwortungsstrukturen schaffen. Deswegen werden wir bewährte Rechtsprinzipien, die in der Tradition moderner Verfassungsstaaten ruhen, wieder zur Wirkung bringen müssen.

1. Die Geldmenge ist durch die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft begrenzt
Die Zentralbanken dürfen grundsätzlich nicht mehr Geld in Umlauf bringen, als die Volkswirtschaft nach ihrer Leistungsfähigkeit verdienen kann. Wenn die Zentralbank das Geld fast nach Belieben zu mehren scheint, sinkt der Geldwert. Der Darlehensgeber verliert einen Teil der von ihm gewährten Darlehenssumme. Der Darlehensschuldner kann seine Schuld ohne eigenes Zutun verringern. Ein „Negativzins“ nimmt dem Sparer das elementare Eigentümerrecht, sein Kapital ertragreich zu nutzen. Wenn der Hoheitsträger die Kreditbedingungen so verändert, dass der Sparer von Rechts wegen sein Eigentum nicht mehr nutzen kann, ist dieses ein Eingriff in das Privateigentum, das zur Nutzung des Eigenen berechtigt. Geld repräsentiert einen individuell erworbenen Eigenwert, ist geprägte Freiheit, darf nicht anfällig für hoheitliche Fremdbestimmung machen.

2. Individuelle Erwerbsanstrengung mehrt allgemeinen Wohlstand
Der Mensch wird sich für den Erwerb anstrengen und damit die allgemeine Prosperität mehren, solange er einen Eigentumsgewinn erwartet. Eigentümerverantwortung wirkt zugleich als Dienst am Gemeinwohl. Deshalb sind die Wirtschaftsgüter grundsätzlich nicht einem Kollektiv, sondern einem einzelnen Menschen zuzuordnen, der dieses Eigentum zu seiner Sache macht, seine Entwicklung verantwortet. Eine Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien oder Wohneigentum wäre ein Verlust an Freiheit und Privatheit, strukturell eine Einbuße an allgemeiner Prosperität.

3. Eigentum ist Selbstbestimmung, Freiheit von staatlicher Last
Das Eigentum sichert Selbstbestimmung über die eigene Sache. Das staatliche Recht formt insbesondere im Bürgerlichen Gesetzbuch die einzelnen Rechte des Eigentümers, bringt sie damit verbindlich zur Wirkung. Doch das Recht der Gegenwart belastet den Eigentümer auch mit einer Überfülle von Normen des Umweltrechts, des Sozialrechts, des Arbeitsrechts und des Steuerrechts, die seine Freiheit beengt und erstickt. Deswegen sollte jeder Bundestagsausschuss in seinem Sachbereich nur so viele Vorschriften zulassen, als ein Abgeordneter einem Betroffenen aus dem Gedächtnis benennen und erlauben kann.
Das moderne Steuerrecht gestaltet die Steuerlasten so, dass der Steuerpflichtige immer dann zur Finanzierung des Staates herangezogen wird, wenn er sich freiwillig am Markt betätigt, um seine Rechtsposition zu verbessern. Die Steuerlast wirkt schonend, wenn sie den Steuerpflichtigen nicht aus einem Vermögensbestand verdrängt, sondern das hinzuerworbene Eigentum (Einkommen) verringert oder den Konsum (Umsatz) verteuert. Bestandsteuern wie die Gewerbekapitalsteuer, die Vermögensteuer und die Grundsteuer sind zwar nach der Verfassungstradition zulässig, verlieren aber ihre Berechtigung, wenn sie im Zusammenwirken mit den Steuern auf das Einkommen und den Verbrauch die Vermögensverhältnisse des Steuerpflichtigen grundlegend verändern, „erdrosselnd“ wirken würden. Deswegen verfehlen Pläne zu einer Vermögensabgabe die steuerliche Wirklichkeit, solange das Vielsteuersystem die kumulative Belastung des Einzelnen nicht klar begrenzt.

4. Der Ankeraktionär, nicht der Streubesitz bestimmt die Kapitalgesellschaft
Wenn die anonymen Kapitalgesellschaften den Ankeraktionär zu Gunsten des Streubesitzes verdrängen und das Fondseigentum den Eigentumseinsatz von der Eigentümerverantwortlichkeit strukturell trennt, muss das Recht diese Entwicklung wieder in die persönliche Verantwortung zurückführen. Die Vorstände der Unternehmen sollten persönlich haften, eine Disziplin des maßvollen Einkommens durch Bindung an die langfristige Entwicklung des Unternehmens entfalten. Fondsbeteiligungen sollten nur noch möglich sein, wenn der Kapitalgeber schriftlich bekundet, welchen Typus der Kapitalnutzung er verantworten will. Die Veranstalter von Digitalsystemen werden zunehmend für die Aussagen, die sie verbreiten, rechtlich einstehen müssen. Auch ihre Entscheidungen müssen im Privateigentum verantwortet werden. Maßstab ist nicht ein Jahresgewinn, sondern die Nachhaltigkeit des Säens und Erntens in der Generationenfolge.

5. Die Krisenbewältigung geht von den Freiheitsberechtigten aus.
Wir haben die medizinischen Gefahren des Corona-Virus vorerst bewältigt, weil der einzelne Bürger sich die Begegnungsverbote und Abstandsgebote zu eigen gemacht hat, die Familien und Unternehmen sich den Erfordernissen der Pandemie angepasst haben, in der örtlichen Gemeinde jeder wusste, „was sich gehört“. Freiheit war weniger Verantwortlichkeit für sich selbst, sondern Verantwortlichkeit für den anderen. Die Menschen wurden zu einer Gefahrengemeinschaft. Die politischen Randgruppen haben an Einfluss verloren.
Dieser individuell und gemeinschaftlich geprägte Gefahrenverbund gegenüber einer von niemandem zu verantwortenden Krise zeigt, dass eine gelingende Rechtsgemeinschaft des Friedens und der gemeinsamen Werte den Ausgangspunkt individueller Verantwortlichkeit braucht. Freiheit ohne Gewissen, ohne die Entwicklung eines kategorischen, verallgemeinerungsfähigen Imperativs, ohne das Einstehen für die anvertrauten Menschen und Vermögensgüter wird auf Dauer scheitern. Deswegen muss das Recht das menschliche Zusammenleben in Familien, in Kirchen und im Privateigentum organisieren. Staat und Europäische Union sind mehr Wertegemeinschaft, weniger Gemeinschaft des Geldverteilens. Freiheit schafft und prägt persönliche – ideelle, wirtschaftliche und politische – Verantwortungsräume.

Privateigentum als Navigator in Krisenzeiten, Prof. Dr. Paul Kirchhof (Artikel als PDF-Dokument)